Tel Aviv, Mittwoch, 14. September 2022, 9.30 Uhr IDT
Shalom, guten Morgen. Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen.
Herzlichen Dank an Israel und sein Gesundheitsministerium, an Herrn Minister Nitzan Horowitz und sein Team und an alle, die diese Tagung des WHO-Regionalkomitees für Europa, das RC72, möglich gemacht haben. Ihre Unterstützung und Gastfreundschaft haben dazu beigetragen, dass unser Regionalkomitee zum ersten Mal seit drei Jahren als Präsenzveranstaltung stattfinden konnte und ein echter Erfolg war.
Ebenso möchte ich Israels anhaltendes Engagement für die öffentliche Gesundheit würdigen, insbesondere seine energische Bewältigung der Pandemie unter der Regie des Ministers, sowie die Innovationen im Bereich der digitalen Gesundheit. Digitale Gesundheit gehört zu den Flaggschiffen des Europäischen Arbeitsprogramms der WHO, und der entsprechende Aktionsplan wurde gestern von den Mitgliedstaaten offiziell angenommen. Das Regionalbüro freut sich dabei auf eine enge Zusammenarbeit mit Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Medien, bevor ich Ihre Fragen beantworte, habe ich heute zwei zentrale, miteinander verknüpfte Botschaften für Sie:
Erstens die übergeordnete Botschaft, die ich schon zu Beginn des RC72 allen Delegierten mitgab und die ich wirklich mit allem Nachdruck vermitteln möchte: In einer Welt ständig zunehmender Gesundheitskrisen, zu einer Zeit wirtschaftlicher Turbulenzen, müssen wir die neue Normalität – die Notwendigkeit eines zweigleisigen Ansatzes in der Gesundheitsversorgung – annehmen und auf sie reagieren.
Dies bedeutet einerseits, dass wir erheblich in die Bereitschaftsplanung für zunehmende und sich oft überschneidende Notlagen investieren müssen. Andererseits müssen wir dafür sorgen, dass wir umso mehr die alltägliche gesundheitliche Grundversorgung aufrechterhalten und stärken.
Beide verdienen dieselbe Aufmerksamkeit und sind gleichermaßen vorrangig – ein zweigleisiger Ansatz für eine neue Normalität. Diese Lektion haben wir durch COVID-19 gelernt.
Nun zu den aktuellen Notlagen.
Die Pandemie selbst ist noch lange nicht vorbei. Immer noch sterben zu viele Menschen unnötigerweise an der Krankheit – vergangene Woche waren es in unserer Region über 3000. Aufgrund der nach wie vor hohen Zahl Ungeimpfter droht uns im Herbst und Winter wieder ein rasanter Anstieg der Fallzahlen. Darüber hinaus hatten in den ersten beiden Jahren der Pandemie wohl mindestens 17 Millionen Menschen in der Europäischen Region der WHO mit Long COVID zu kämpfen. Auf der Tagung in dieser Woche haben wir darüber diskutiert, wie wir diese langfristige Krise besser bewältigen können.
Die Zahl der Fälle von Affenpocken ist in manchen Ländern rückläufig, aber wir dürfen uns nicht zurücklehnen. Wir haben allerlei Werkzeuge zur Bekämpfung des Ausbruchs, aber wir brauchen mehr politischen Willen. Und nicht zuletzt müssen wir gegen die Stigmatisierung der betroffenen Bevölkerungsgruppen ankämpfen – in diesem Fall vor allem Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten. Ich beglückwünsche Israel zu seiner Entscheidung, die Rechte und Menschenwürde von LGBTQI+-Personen zu einer zentralen Säule seiner Gesundheitspolitik zu machen.
Poliomyelitis ist in unserer Region und anderswo auf unerwartete Weise wieder aufgetreten. Es gibt genetische Verknüpfungen zwischen dem Virus, das vor Kurzem in den Vereinigten Staaten nachgewiesen wurde, und dem Virus, das in einigen Teilen unserer Region, auch in Israel, gefunden wurde und das wiederum mit einem Poliovirus in Südasien verknüpft ist.
Im Grunde genommen kann sich eine Bedrohung irgendwo auf der Welt rasch zu einer weltweiten Bedrohung entwickeln. Wenn wir uns jetzt nicht vorbereiten, könnte das später katastrophale Folgen haben. Wir haben in dieser Woche lebhafte Diskussionen mit den Ländern und den Partnerorganisationen geführt, u. a. zu der Frage, wie Gegenmaßnahmen auf der regionsweiten und der globalen Ebene besser aufeinander abgestimmt werden können.
Kommen wir nun zur Aufrechterhaltung und Stärkung der Gesundheitssysteme und der Grundversorgung.
Die Pandemie hat, wie wir wissen, die Gesundheitssysteme überlastet. Viele unentbehrliche Programme und Leistungen wurden schwer beeinträchtigt. Nun, da wir uns langsam erholen, brauchen wir höhere Investitionen in vielen Bereichen und müssen die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse und die besten Instrumente und Technologien einsetzen.
Das Regionalkomitee hat uns hier in dieser Woche deutlich den Weg gewiesen.
Wir haben ehrgeizige, aber praktische Fahrpläne und Handlungsrahmen zur Eliminierung von Gebärmutterhalskrebs und zur Beendigung von Tuberkulose, HIV, Virushepatitis und sexuell übertragbaren Infektionen angenommen.
Ferner haben wir Aktionsplänen zur Reduzierung des Alkoholkonsums und zur Bekämpfung einer Reihe nichtübertragbarer Krankheiten zugestimmt, die Millionen Menschenleben kosten.
Außerdem haben die Länder einen Handlungsrahmen der WHO zur Verwirklichung eines Höchstmaßes an Gesundheit für Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Region angenommen – ein weiterer bahnbrechender Erfolg.
Die Oslo-Initiative für Arzneimittel hat zu mehr Partnerschaften zwischen Regierungen, Zivilgesellschaft und der Pharmaindustrie geführt, die darauf abzielen, den Zugang zu hochpreisigen innovativen Arzneimitteln bezahlbar zu machen – ein Prozess unter Federführung von WHO/Europa in der Rolle des neutralen Vermittlers.
Ich freue mich insbesondere darüber, dass die Mitgliedstaaten zwei der vier Flaggschiff-Initiativen von WHO/Europa angenommen haben: den Handlungsrahmen der Europäischen Region der WHO für die Berücksichtigung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse und den Aktionsplan zur Förderung der digitalen Gesundheit:
Verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse verbessern unser Verständnis, wie einzelne Verhaltensweisen und soziale Umstände die Gesundheit der Menschen bestimmen können, und helfen uns dabei, wirksamere und passgenaue Gesundheitsprogramme und -initiativen zu entwerfen und umzusetzen.
Ein Beispiel für die Anwendung verhaltensbezogener und kultureller Erkenntnisse kommt aus dem Vereinigten Königreich, wo diese Erkenntnisse für die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen (AMR) herangezogen wurden, eine der größten Gefahren für die öffentliche Gesundheit weltweit. Bei einem unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika können Erreger Resistenzen bilden und sog. „Superbakterien“ entstehen, die nicht auf Behandlung ansprechen. Weltweit werden Antibiotika von Ärzten übermäßig verschrieben, was zur Entstehung von AMR beiträgt.
Im Vereinigten Königreich haben die Gesundheitsbehörden hier mit einem Pilotprojekt gegengesteuert, das sich verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse zunutze macht. Dabei wandte sich der Oberste Gesundheitsbeamte in einem Schreiben an die Ärzte in der primären Gesundheitsversorgung bzw. die Hausärzte, die mehr Antibiotika verschrieben, als normalerweise zu erwarten wäre. In dem Schreiben wurden in einem auf soziale Normen abzielenden Ansatz verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse präsentiert. Die Zielsetzung bestand darin, die betreffenden Hausärzte auf ihr Verhalten im Vergleich zu Kollegen aufmerksam zu machen und die Überverschreibung um 4% zu reduzieren.
Das Ergebnis waren über 73 000 Antibiotikaverschreibungen weniger in sechs Monaten – ein Rückgang um 3,3% und eine Kostenersparnis für die Steuerzahler von fast 100 000 Pfund an Rezeptkosten. Dieses erfolgreiche Pilotprojekt wurde im Vereinigten Königreich ausgeweitet, und eine Reihe anderer Länder haben denselben Ansatz übernommen.
Die digitale Gesundheit bietet uns modernste Tools für eine bessere Gesundheitsversorgung über verschiedene Plattformen in unterschiedlichen Umfeldern und ermöglicht uns so eine grundlegende Umgestaltung der Gesundheitslandschaft in einer Vielzahl von Bereichen. Wie bereits erwähnt, wird Israel auf diesem Gebiet zu unseren wichtigsten Partnern gehören und seine Erfahrungen mit der Europäischen Region und dem Rest der Welt teilen.
Gestatten Sie mir, Herr Minister Nitzan, ein Beispiel aus Israel von der Anwendung digitaler Gesundheit zu zitieren: die Arbeit des Zentrums für digitale Innovation am Sheba Medical Center, wo neue Tools entwickelt werden – etwa eine App, die es Schwangeren ermöglicht, den Arzt von zuhause aus zu konsultieren, und mit der Hebammen die Vitalfunktionen des Fötus aus der Entfernung überprüfen können, damit Frauen aus ländlichen Gebieten nicht große Entfernungen zurücklegen müssen. Wie wir wissen, wird dieses Tool gerade für israelische und palästinensische Frauen flächendeckend eingeführt.
Wir sind wirklich begeistert von dem Potenzial, das die Kooperation im Bereich der digitalen Gesundheit, aber auch andere in dieser Woche auf dem Regionalkomitee erzielte Erfolge für Millionen Menschen beinhalten.
Doch nun zu meiner zweiten zentralen Botschaft am heutigen Tag. Es ist eine Warnung: Es gibt eine tickende Zeitbombe, die all diese Ziele gefährdet.
Unsere Gesundheits- und Pflegefachkräfte hatten schon vor COVID-19 unter Personalmangel, einer unzureichenden Anwerbung und Bindung, der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, unattraktiven Arbeitsbedingungen und mangelnden Fortbildungsmöglichkeiten zu leiden. Die Pandemie hat all dies noch verschärft. Wenn hier nicht dringend gehandelt wird, könnte das zu einer Katastrophe führen. Wir brauchen unbedingt in allen Bereichen ein optimales Gesundheits- und Pflegepersonal.
Deshalb habe ich diese Gelegenheit gewählt, um einen neuen Bericht zu präsentieren, in dem dringend an Regierungen und Gesundheitsbehörden appelliert wird, unverzüglich zu handeln.
Betrachten Sie einmal die aktuelle Situation: In einem Drittel der 53 Länder unserer Region sind 40% der Ärzte nahe am Ruhestandsalter. Die angemessene Ersetzung dieser Ärzte und anderer Gesundheits- und Pflegefachkräfte wird in naher Zukunft für Regierungen und Gesundheitsbehörden zu einer erheblichen Herausforderung werden. Die Länder müssen schnell und strategisch geschickt handeln, um die nächste Generation von Gesundheitsfachkräften auszubilden, anzuwerben und zu binden.
Dies erfordert innovative und flexible Konzepte, wie die Aufnahme von in anderen Ländern ausgebildeten Fachkräften ohne unnötige und umständliche Bürokratie, auch bei der Wahrung der Qualitätssicherung.
Ein weiteres zentrales Ergebnis des Berichts ist die besorgniserregend schlechte psychische Gesundheit so vieler unserer Fachkräfte. Lange Arbeitszeiten, unzureichende professionelle Unterstützung, ernsthafter Personalmangel und hohe Infektions- und Sterberaten aufgrund von COVID-19 unter den an vorderster Front tätigen Fachkräften – insbesondere während der frühen Phasen der Pandemie – haben alle bis heute Spuren hinterlassen.
Während der ersten Welle stiegen die Personalausfälle im Gesundheitswesen in unserer Region um 62%, und in fast allen Ländern wurden psychische Probleme beim Gesundheitspersonal gemeldet.
In unserem Bericht wird ein praktischer Zehn-Punkte-Aktionsplan zur Schließung dieser Lücken präsentiert. Dazu gehören die Erhöhung der Attraktivität der Arbeit im Gesundheitswesen durch höhere Gehälter, die Heranbildung künftiger Führungskräfte, die Förderung von Personalentwicklung und psychischer Gesundheit, die Verbesserung der Datenerhebung und eine sinnvollere Nutzung digitaler Tools.
Die Bewältigung der Personalkrise im Gesundheits- und Pflegewesen ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Bewältigung der Zweigleisigkeit in unserer neuen Normalität. Ich appelliere dringend an alle Länder, dies ernst zu nehmen. WHO/Europa wird dabei in allen Bereichen ihr Partner sein.
Trotz dieser Herausforderungen möchte ich mit einer zuversichtlichen Feststellung schließen, denn Optimismus ist auch eine Art von Medizin.
Sehen Sie doch nur, was wir erreichen können, wenn wir uns etwas vornehmen. Das Regionalkomitee in dieser Woche hat das zweifelsfrei bewiesen. Es geht vielleicht nicht immer reibungslos, aber es ist auch nicht unmöglich.
Und so möchte ich mit einem Zitat in der schönen hebräischen Sprache schließen; es stammt von dem bekannten israelischen Sänger Arik Einstein, der in der jüdischen und arabischen Bevölkerung gleichermaßen beliebt ist: Ani ve'ata neshaneh et ha'olam. Gemeinsam werden wir, Sie und ich, die Welt verändern. Ich danke Ihnen. Toda raba.